Stolpersteine

Stolpern, verbeugen und reinigen – Francke-Schüler erinnern an frühere Mitbürger

 

Sie werden das in ihrer Freizeit erledigen: Mehr als zehn Schüler/-innen der Klasse 9a kümmern sich zukünftig um 22 „Stolpersteine“, die im südöstlichen Teil des Stadtgebiets von dem Künstler Gunter Demnig im Bürgersteig eingelassen wurden – dort, wo jüdische Mitbürger ihren letzten selbst gewählten Wohnort hatten. Jede dieser Messingplatten erinnert an ein Opfer der NS-Zeit und informiert über Lebens- und Todesdaten. Damit das Metall nicht verdunkelt und die Schrift leserlich bleibt, haben sich die Schüler/-innen dazu bereit erklärt, einmal im Jahr diese Stellen am Straßenrand aufzusuchen und zu reinigen.

In Gießen liegen insgesamt über 150 solcher Stolpersteine. Angelika Nailor, Geschäftsführerin des Vereins Ehrenamt Gießen e.V. , fragte zur Unterstützung der Stolperstein-Koordinierungsgruppe Gießen bei den Schulen der Stadt nach und stellte den Kontakt zu Pfarrer Klaus Weißgerber her. Er suchte für die Francke-Schüler/-innen Straßenzüge heraus, die zwischen Schule und Innenstadt liegen, und lieferte Adress- und Lebensdaten der Menschen, an die erinnert werden soll.

Inzwischen hatten die Jugendlichen bereits Gelegenheit, sich im Geschichtsunterricht und ergänzend in Eigenregie mit den Schicksalen der jüdischen Mitmenschen zu beschäftigen, wie zum Beispiel Deportationszeitpunkt und KZ-Aufenthalt. Ihnen kommen die Fakten aus dem Geschichtsbuch nun geografisch und menschlich nahe, wie die 15- und 16-jährigen Schüler/-innen bei der ersten Putzaktion im Beisein von Stufenleiter Stefan Ulbrich berichteten. Sie hatten auf einem Poster ihre Recherche-Ergebnisse anschaulich dargestellt und erzählten, dass zunächst die Familienverhältnisse schwer herzustellen waren, da Jungen oft denselben Namen bekommen hätten wie der Großvater. Aber dann gelang die Übersicht doch.

Aus der großen Zahl der NS-Opfer traten nun einzelne Schicksale hervor. So berichtete ein Schüler von Ellen Jacob (geb. 1925), die auf dem Schulweg geschlagen und als Jüdin verunglimpft worden war und im Alter von 17 Jahren in Treblinka ermordet wurde. Wie eine Mitschülerin ergänzte, erfordert der in den Bürgersteig eingelassene Stolperstein, dass man sich zum Lesen der Schrift herabbeugt und sozusagen vor dem dort genannten Menschen verbeugt.

Monika Graulich, Gießener Stadträtin und Mitglied der hiesigen Koordinierungsgruppe, wies darauf hin, dass es nicht nur Stolpersteine zu ehemaligen jüdischen Mitbürgern gibt, sondern auch zur Erinnerung an andere vom Nazi-Regime verfolgte Menschen. In Gießen werden auch zukünftig Biografien Betroffener erforscht, und für die Verlegung weiterer Steine werden noch Spender gesucht. Hinweise dazu finden sich unter http://www.stolpersteine-giessen.de.

Inzwischen sind die Jugendlichen ans Werk gegangen und haben mit Metallputzmittel und einem Schwamm Straßendreck und Staubreste entfernt: die sieben vor Stephanstraße 28 verlegten Stolpersteine glänzen wieder. Es wird deutlich, dass das Denken und Handeln heutiger Menschen die Erinnerung an verfolgte Mitbürger wachhält. Die anwesenden Erwachsenen freuten sich sichtlich über das Engagement der Schüler/-innen, weil es ein hoffnungsvolles Zeichen setzt.

Andere Akteure, die sich an weiteren Gießener Standorten um die Reinigung der Stolpersteine kümmern werden, sind laut Pfarrer Weißgerber die Brüder-Grimm-Schule, die Goetheschule, die Herderschule, die Landgraf-Ludwig-Schule, die Liebigschule, die Ostschule und die Ricarda-Huch-Schule sowie Konfirmanden der Evangelischen Michaelsgemeinde Wieseck und einzelne Privatpersonen.

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